Roman Seelenbrandt Shortstory


Der Ausstieg

Teil 6


Die circa 20 minütige Busfahrt durch Hamburg war beeindruckend, ganz anders als wenn man wie ich, jahrelang durch Salzgitter fahren musste. Ich bin an der Alster vorbei, Richtung Sankt Pauli, was dann auch meine Endstation wurde, direkt an der Reeperbahn stieg ich aus, es war wieder einmal ein befremdendes Gefühl. Mir war klar das Hamburg meine neue Heimat war, doch das ich nach Jahrelanger Überlegung diesen Schritt heute gewagt habe, ist schon etwas beängstigend. Vor allem weil ich diesen Schritt ganz alleine machte. Wer mich kennt, weiß das ich nicht unbedingt vor Kontaktfreudigkeit strotze, ich bin eher ein Einzelgänger. Ich habe ein Problem damit fremde Menschen anzusprechen, es sei denn ich habe ordentlich etwas Berauschendes intus und meine Laune ist absolut Positiv eingestellt.

Es müssen schon einige psychische Begebenheiten zusammenkommen, damit ich mich unter fremden Menschen wohlfühlen kann. Diese Ungewissheit keine Ahnung zu haben, was alles in den nächsten Wochen auf mich zukommt. Wie zum Beispiel der Stress mit den Behörden, der psychische Druck alleine in einer fremden Stadt auf der Straße zu Leben. Die Angst vor gewalttätigen übergriffen, Ärger mit der Polizei, der nahende Winter und die damit verbundene Kälte, aber auch der permanente Gedanke eine falsche Entscheidung getroffen zu haben, und es nicht in ein halbwegs geordnetes Leben zurückzuschaffen. Spielten eine sehr spannende aber auch fast Lähmende Destination in meinen Handlungen. Doch es gab natürlich auch positive Aspekte und das war die Stadt Hamburg selbst. Der Mythos der 80er Jahre, der in mir immer noch lebt. Lässt mich optimistisch in die nahe Zukunft schauen, denn wenn es noch Punk Charakteristika gibt, dann wohl in Hamburg und wenn mein Glaube an diesen Kult ehrlich ist. Bin ich in dieser Stadt nicht alleine. Inmitten von Sankt Pauli, dem Rummel auf der Reeperbahn auch zu dieser relativ frühen Stunde, war mir von früheren Besuchen in Hamburg bekannt. Aber wiegesagt ist der Grund für meinen jetzigen Aufenthalt ein anderer.

Ich ging also von der Reeperbahn in Richtung Hafenstraße, denn dort vermute ich Leute, die mir und meiner derzeitigen Situation ähneln. Denn in den 80er Jahren aber auch heute noch Leben dort ehemalige Hausbesetzer, Punkrocker oder auch einfache Obdachlose, die mir sicherlich Auskunft geben können. Worauf es in meiner Situation ankommt, was ich als Erstes tun sollte und worauf ich zu achten habe. Natürlich ist mir bewusst das ich dort keinen Schlafplatz finden werde, dennoch ist dieser Ort meine große Hoffnung, in dieser fremden Stadt die ersten Kontakte zu knüpfen. Als ich die Straße die direkt zur Hafenstraße führt, überquerte. Sah ich schon die ersten Menschen mit bunten Haaren, etwas verwegenen Erscheinungsbild, und propagandistischen Spruchparolen auf den Kleidungsstücken, und wieder konnte ich es nicht glauben, dass ich diesen Schritt wagte.

Ich dachte an meinen Kumpel, von dem ich Eingangs erzählte, er wäre sicher sehr stolz auf mich und würde mich bestimmt auch einwenig beneiden. Das Wetter war heute auch hier in Hamburg ganz gut. So das ich die meisten Bewohner der Hafenstraße irgendwo hier draußen vermutete, dennoch war mir klar das ich ein anderen Aussteiger treffen werde. Während ich durch die Hafenstraße schlenderte und mir alle Parolen auf den Häuserwänden ansah. Durchdrang die ganze Zeit ein Gefühl von Unbehagen durch meinen Körper, denn so Sozial diese Gesellschaft in diesem Ort auch eingestellt ist. Kann sie gegenüber Fremden auch ganz schön grob sprich Provokant, feindlich sogar gewalttätig sein. Etwas was ich bei meiner mentalen Verfassung überhaupt nicht gebrauchen konnte. Doch es blieb alles ruhig. Ich sah einige Leute die saßen bei ihrem Bier auf ihren verrosteten, dreckigen, alten, knatschenden Campingstühlen. Während aus dem Fenster im Hintergrund Musik dröhnte. Einige andere wiederum saßen auf den ziemlich zerfallenen Mauern, die es hier ringsrum überall gibt und warteten, dass ihr Grillfleisch fertig wird. Noch war mir nicht klar, welchen von den Menschen ich ansprechen könnte.

Ihre Ignoranz gegenüber meine fremde Person machte die Situation ehrlich gesagt auch nicht besser, als die Tatsache vielleicht angepöbelt zu werden. Denn man ahnte das wenn man sie ansprechen würde, es nichts Konstruktives ergeben würde, denn ihre Ignoranz ist ein Sinnbild, dessen das sie vermutlich ihre Ruhe wollen. Nach einpaar weiteren Schritten sah ich am Horizont ein Pärchen auftauchen, sie dürften beide mitte 40 sein, sie mit Schulterblatt langen schwarzen Haaren und einer am Scheitel Feuerroten strähne, auf ihrem ziemlich verwaschenen schwarzen T-Shirt stand der Schriftzug einer alten deutschen Funpunk Band und er etwas Korpulenter, mit schulterlangem braunen Haar das an einer Schläfe runterrasiert wurde mit zerrissener Jeans und ein schwarzes keine Macht für Niemand T-Shirt am Leib, machten auf den ersten Blicken einen passablen Eindruck sie anzusprechen. Ich bewegte mich also auf sie zu, und bevor ich mir überlegen konnte wie ich sie Ansprechen könnte, sprachen sie mich schon an. Er fragte mich einfach: „Ob ich mich verlaufen hätte?“ Ich lächelte und fragte ihn: „ Hier in dieser Stadt oder im Leben auf dieser Welt?“ Worauf er eine alte deutsche Punkband und deren Lyrik zitierte: „Ja ja, hätte man mich gefragt, hätte ich gesagt ich will auf dieser Welt nicht Leben, bitte treib mich ab!“ Ich lächelte wieder und nannte den Namen der Band, die diesen Text schrieb.

Ich sagte ihm, dass ich tatsächlich einpaar Auskünfte gebrauchen könnte. „Auskünfte?“ fragte er mich und fügte hinzu: „ Also, da wissen Macht bedeutet, weiß ich nicht ob ich meine Macht mit Dir teilen soll, ich kenne Dich ja gar nicht, wer weiß was Du vor hast, Drogen hab ich keine, sorry!“ ich grinste:„Nein, nein keine Drogen, ich wollte wissen ob Du Dich mit dem Zeitgeist der Hafenstraße auskennst und ob Du Ahnung vom Leben hier bzw. auf der Straße hast?“ er Antwortete sogar nett: „In der tat ich lebe seit knapp 20 Jahren hier in der Hafenstraße, ich lebte zuvor 5 Jahre auf der Straße, aber wer will das wissen?“ fragte er. Wir unterhielten uns knapp 10 Minuten lang, über Hamburg, die Hafenstraße, Hausbesetzer- und Punkrockszene bis ich zu meinem eigentlichen Anliegen kam. Sie waren beide ziemlich lieb, man spürte in ihren Worten das sie von der ganzen Punkrock und Hausbesetzer Szene Ahnung hatten. Ihre Worte klangen glaubhaft und sehr erfahren, ich fühlte mich jedenfalls gut aufgehoben bei ihnen mit meinem Problem. Sie lächelte ständig und war keineswegs ruhig, sondern richtig tief im Thema involviert. Nicht so wie man meinen könnte, dass sie eine Ausreißerin war, und einfach nur ein bisschen Chaotisch. Sondern wirklich Auskunftsfähig und Punkkulturell informiert, fast ein Fan. Falls man diesen Kult als Fangemeinschaft ansehen möchte.

In Wirklichkeit steckt natürlich sehr viel mehr dahinter, für manche sogar eine Religion. Als ich dann zu meiner Problem Schilderung kam, fielen beide sich andauernd gegenseitig ins Wort, ich wusste gar nicht, wen ich zuerst in die Augen sehen sollte, bis ich gesagt habe: „ Langsam, ganz langsam, holt beide erst einmal Luft!“ Ich beschrieb ihnen meine Situation, betreff der Tatsache, dass ich keinen Personalausweis, keine Bleibe, keine weiteren Papiere, Urkunden oder Unterlagen bei mir habe. „Das ich so etwas noch mal erlebe in der heutigen Zeit!“ sagte darauf der Typ, mit dem ich mich unterhielt. Ich bekam heraus, das ich als erstes einen Personalausweis brauche. Ohne jegliche Unterlagen jedoch, brauche ich eine Geburtsurkunde. Die bekomme ich ohne Unterlagen beim Standesamt meines Geburtsortes. Diese könne ich online beziehen, für ungefähr 30 Euro, sofern ich mich einwenig mit dem Computer auskenne. Internetcafés gibt es mittlerweile in jeder besseren Spielhalle. Als Zweites müsse ich dann einen Personalausweis beantragen, da ich keinen Reisepass und auch keinen anderen Personalausweis besitze, brauche ich dafür die Geburtsurkunde. Bis ich im Besitz dieser Dokumente bin, können schon mal 12 Wochen vergehen und bis dahin wird es kalt sein. Also brauche ich eine Bleibe, dafür ist das Sozialamt zuständig. Aber auch Obdachlosenheime und Kirchen(gemeinden) würden mir helfen meinte der Typ. Wichtig ist das ich mich von der Bullerei fernhalte, ohne Perso würde ich nur unnötig weiteren Ärger bekommen. Ich dachte eine Weile nach und mir fiel auf, dass das alles gar nicht so wild klingt. Mein Geld knapp über 1000 Euro in Bar, würde für ein paar Sitzungen im Internet allemal reichen. Wir redeten noch einwenig weiter, er verriet mir ein paar Tipps wie man sich das Leben auf der Straße so angenehm wie möglich gestalten kann. Ich hörte den beiden gespannt zu und meine depressive Stimmung wurde durch ihre Worte einwenig aufgehellt. Mir war bewusst das meine Situation nicht einfach ist, aber auch nicht unmöglich.

Es gibt sicherlich Menschen die noch viel schlimmer dran waren als ich selber, außerdem hatte ich mir diesen Weg eigenständig ausgesucht. Dann verrieten wir endlich unsere Namen, die beiden hießen Birte und Michael und es war sehr angenehm, sie heute getroffen zu haben. Ich ließ mir ihre E-Mail Adresse geben um bei weiteren fragen Kontakt zu ihnen halten zu können. Worauf sie mir verrieten das sie 1-2 mal die Woche im Internetcafé ihre Mails checken und einwenig in online Fanzines aktuelle Infos zu beziehen. Ich sagte: „ Super, ich danke euch zwei, durch eure Hilfe bin ich einwenig beruhigter. Ich werde die nächsten Wochen entspannter Angehen können, als ich noch vor 2 Stunden vermutet habe!“ Worauf Michael mir dann noch sagte, das es wohl morgen Abend am Kiez Krawall geben würde. Denn der FC Sankt Pauli hat ein Heimspiel gegen den FC Hansa Rostock. Wer die zwei Erzrivalen kennt, weiss das die rechte Rostocker Fangruppe, hier in Hamburg bei den linken Paulianern gerne Randale machen. Er meinte ich solle mich nicht alleine in abgelegenen Gassen aufhalten und versuchen mich den Hamburger Fans anzuschließen, sofern ich auf Sankt Pauli bleiben sollte.